Zirkuslektionen sind weit mehr als bloße Tricks. Sie sind eine Form der Kommunikation, ein stiller Dialog, der die Beziehung zwischen Mensch und Pferd auf eine tiefere Ebene hebt. Besonders das Kompliment fasziniert viele Reiter: eine Geste, die Anmut, Kraft und absolutes Vertrauen symbolisiert. Doch hinter der scheinbaren Leichtigkeit steckt ein anspruchsvoller Lernprozess, der Wissen und Geduld erfordert.
Immer mehr Pferdeliebhaber suchen nach Wegen, die Partnerschaft mit ihrem Pferd abseits des Sattels zu stärken. Dieser Wunsch nach mehr Miteinander zeigt sich auch in den Zahlen: Eine Studie der FN (Deutsche Reiterliche Vereinigung) und Ipsos belegt, dass sich 45 % der Reiter regelmäßig Aktivitäten wie der Bodenarbeit widmen. Es ist ein Wandel weg vom reinen Leistungsgedanken, hin zu einer freizeitorientierten Partnerschaft, die für 76 % der Reiter im Vordergrund steht. Das Kompliment ist der perfekte Ausdruck dieser Philosophie – sofern es korrekt und pferdegerecht erarbeitet wird.
Dieser Leitfaden führt Sie sicher durch den Prozess und zeigt, wie Sie das Kompliment nicht nur als Lektion, sondern als wertvolles gymnastizierendes und vertrauensbildendes Element in Ihr Training integrieren.
Der Experten-Blick: Ist das Kompliment pferdegerecht?
Die am häufigsten gestellte Frage lautet: „Ist das Kompliment schädlich für mein Pferd?“ Die Antwort ist ein klares Jein, denn sie hängt entscheidend von der korrekten Ausführung ab. Die Sorge vieler Reiter, ihrem Pferd unabsichtlich zu schaden, ist absolut berechtigt und ein Zeichen von Verantwortungsbewusstsein.
Die korrekte Biomechanik
Bei einem pferdegerechten Kompliment dehnt das Pferd ein Vorderbein aktiv nach vorne, während es das andere Bein beugt und das Karpalgelenk (Vorderfußwurzelgelenk) zum Boden absenkt. Der Rücken bleibt dabei möglichst gerade und aktiv. Diese Bewegung sorgt für eine intensive Dehnung der Schulter-, Brust- und Rückenmuskulatur. Sie fördert die Beweglichkeit und kann, richtig ausgeführt, zur Gesunderhaltung beitragen.
Die häufigste Gefahr: der „Kopfstand“
Der kritischste Fehler, vor dem Experten wie die Pferdetherapeutin Sandra Fencl oder Dr. med. vet. Andrea Wüstenhagen warnen, ist das Abstützen mit dem Kopf oder der Stirn am Boden – der sogenannte „Kopfstand“. In dieser Position lastet das Gewicht unphysiologisch auf der Halswirbelsäule und den Gelenken der Vordergliedmaßen. Die Folge ist enormer Druck auf Gelenke, Sehnen und Bänder und ein hohes Verletzungsrisiko. Ein korrektes Kompliment wird immer aus der Kraft der Rumpfmuskulatur gehalten, niemals durch Abstützen des Kopfes.
Ziel ist es, dem Pferd beizubringen, die Position ausbalanciert und aktiv zu halten. Dies erfordert eine solide muskuläre Grundlage und ein schrittweises Vorgehen, das wir Ihnen nun erläutern.
Die Grundlage für den Erfolg: Notwendige Vorübungen
Bevor Sie mit dem eigentlichen Training des Kompliments beginnen, müssen einige Grundlagen sicher sitzen. Diese Vorübungen schaffen nicht nur die physischen Voraussetzungen, sondern legen auch den kommunikativen Grundstein für diese anspruchsvolle Lektion.
- Ruhiges Stehen: Ihr Pferd sollte in der Lage sein, entspannt und aufmerksam neben Ihnen zu stehen, ohne zu drängeln oder unruhig zu werden.
- Führen in Position: Sie müssen Ihr Pferd präzise an Ihrer Seite positionieren können – ein Schritt vor, ein Schritt zurück, ein Schritt seitwärts.
- Target-Training: Das Berühren eines Targets (z. B. eine Fliegenklatsche oder ein Ball am Stick) mit der Nase ist eine hervorragende Grundlage. Ebenso wichtig ist das gezielte Anheben eines Beines auf eine leichte Berührung mit der Gerte.
- Bein anheben und halten: Üben Sie, dass Ihr Pferd auf ein sanftes Signal hin ein Vorderbein anhebt und für einige Sekunden in der Luft hält, ohne das Gleichgewicht zu verlieren. Dies schult die Balance und die stützende Muskulatur.
- Dehnübungen: Einfache Dehnungen wie die Karotten-Dehnung zur Brust oder seitlich zum Bauch verbessern die Flexibilität und bereiten die Muskulatur auf die anspruchsvolle Haltung des Kompliments vor.
Investieren Sie ausreichend Zeit in diese Grundlagen der Pferdeausbildung. Sie sind das Fundament, auf dem der spätere Erfolg sicher ruht.
Schritt-für-Schritt-Anleitung: Der Weg zum anmutigen Kompliment
Geduld ist der Schlüssel. Gehen Sie jeden Schritt langsam an und belohnen Sie bereits kleinste Ansätze in die richtige Richtung. Ein Leckerli zur richtigen Zeit wirkt oft Wunder.
Schritt 1: Die Ausgangsposition
Stellen Sie Ihr Pferd auf ebenem, rutschfestem Boden gerade hin. Positionieren Sie sich seitlich auf der Höhe der Schulter. Halten Sie in einer Hand eine Gerte zum Antippen des Beines und in der anderen ein Leckerli.
Schritt 2: Das Bein anheben und nach vorne führen
Tippen Sie mit der Gerte sanft das Vorderfußwurzelgelenk des Beines an, das gebeugt werden soll. Sobald Ihr Pferd das Bein anhebt, führen Sie Ihre Hand mit dem Leckerli tief zwischen die Vorderbeine in Richtung Brust. So folgt das Pferd dem Leckerli mit dem Kopf und verlagert dabei sein Gewicht leicht nach hinten, was das angehobene Bein entlastet.
Schritt 3: Die Dehnung nach unten einleiten
Nun kommt der entscheidende Teil: Während das Pferd das eine Bein angehoben hat, bitten Sie es, das andere Vorderbein nach vorne zu strecken. Dies kann anfangs durch einen Helfer unterstützt, durch sanftes Vorwärtsziehen mit einem weichen Seil an der Fessel oder durch eine vor das Pferd gelegte Stange erreicht werden, die es animiert, das Bein darüber zu strecken.
Schritt 4: Das Abknien und Halten
Sobald das eine Bein gestreckt ist, führen Sie die Leckerli-Hand weiter nach unten und hinten, sodass das Pferd den Kopf senkt und sich langsam auf dem anderen Bein „abknien“ kann. Belohnen Sie den Moment, in dem das Gelenk den Boden berührt, sofort und ausgiebig. Anfangs dauert dieser Moment nur einen Wimpernschlag – das ist völlig in Ordnung.
Schritt 5: Das kontrollierte Auflösen
Geben Sie ein klares Signal zum Aufstehen (z. B. das Wort „Hoch“) und richten Sie sich selbst auf. Führen Sie die Nase des Pferdes mit der Hand leicht nach oben, um das Aufstehen zu erleichtern. Loben Sie Ihr Pferd, sobald es wieder steht. Ein kontrolliertes, ruhiges Aufstehen ist genauso wichtig wie die Lektion selbst.
Typische Fehler und Lösungen: Der ultimative Troubleshooting-Guide
Jedes Pferd lernt anders. Wenn Sie auf Probleme stoßen, ist das kein Grund zur Frustration, sondern eine Chance, Ihre Kommunikation zu verfeinern. Hier sind die häufigsten Hürden und wie Sie sie meistern:
Problem: Mein Pferd weicht seitlich aus oder geht rückwärts.
Ursache: Oft ein Zeichen von Unsicherheit oder mangelnder Balance. Das Pferd versucht, der ungewohnten Anforderung auszuweichen.
Lösung: Arbeiten Sie an einer Wand oder in einer Ecke der Reitbahn, um das seitliche Ausweichen zu begrenzen. Gehen Sie einen Schritt zurück zu den Vorübungen und festigen Sie das ruhige Stehen. Stellen Sie sicher, dass Ihr Pferd Ihnen vertraut und nicht vor Ihrer Position an seiner Schulter zurückweicht.
Problem: Mein Pferd macht einen „Kopfstand“ und stützt sich mit der Stirn ab.
Ursache: Das Pferd hat noch nicht verstanden, die Position mit der Rumpfmuskulatur zu halten, oder ihm fehlt die Kraft dazu. Es sucht nach dem einfachsten Weg, das Gleichgewicht zu halten.
Lösung: Korrigieren Sie dies sofort, aber sanft. Geben Sie das Aufsteh-Signal, sobald Sie merken, dass der Kopf zu tief geht. Führen Sie die Leckerli-Hand nicht zu tief nach unten, sondern eher nach hinten in Richtung Brust. Loben Sie nur, wenn der Kopf in der Luft bleibt. Kürzere Haltezeiten helfen, die Muskulatur aufzubauen.
Problem: Mein Pferd springt sofort wieder auf.
Ursache: Fehlende Balance, Kraft oder das Pferd hat das Prinzip des Haltens noch nicht verstanden.
Lösung: Geduld ist hier alles. Belohnen Sie die kleinste Andeutung des Verharrens am Boden – selbst wenn es nur eine halbe Sekunde ist. Geben Sie das Leckerli genau in dem Moment, in dem das Gelenk am Boden ist, nicht davor oder danach. Verlängern Sie die Haltezeit schrittweise über viele Trainingseinheiten.
Motivation und Sicherheit: So bleibt die Freude erhalten
Die Arbeit an Zirkuslektionen sollte immer eine positive Erfahrung sein. Beachten Sie diese Punkte, um Motivation und Sicherheit zu gewährleisten:
- Kurze Einheiten: Trainieren Sie nur wenige Minuten am Stück (5-10 Minuten) und beenden Sie die Einheit immer mit einem Erfolgserlebnis.
- Achten Sie auf die Signale: Achten Sie auf Anzeichen von Überforderung oder Stress bei Ihrem Pferd – wie Ohrenanlegen, Zähneknirschen oder allgemeine Anspannung. Machen Sie eine Pause oder beenden Sie das Training für den Tag.
- Der richtige Untergrund: Üben Sie immer auf weichem, aber rutschfestem Boden wie Sand oder einer Gummimatte. Harter oder unebener Boden ist ungeeignet.
- Beidseitig arbeiten: Vergessen Sie nicht, das Kompliment auf beiden Seiten zu üben, um eine einseitige Belastung zu vermeiden und die Muskulatur gleichmäßig zu gymnastizieren.
Fazit: Mehr als eine Lektion – ein Meilenstein in Ihrer Beziehung
Das Kompliment ist eine der dankbarsten Lektionen in der Bodenarbeit. Es stärkt nicht nur die Muskulatur und verbessert die Beweglichkeit Ihres Pferdes, sondern schafft vor allem eines: tiefes Vertrauen. Der Weg dorthin erfordert Konsequenz, Einfühlungsvermögen und ein gutes Verständnis für die Biomechanik Ihres Pferdes.
Wenn Sie diese Lektion pferdegerecht und ohne Druck erarbeiten, schenken Sie sich und Ihrem Pferd weit mehr als einen beeindruckenden Trick. Sie schaffen einen gemeinsamen Moment der Harmonie und des gegenseitigen Respekts – die Essenz jeder guten Partnerschaft zwischen Mensch und Pferd.




