Kennen Sie die klassische Ausbildungsskala der FN?
Takt, Losgelassenheit, Anlehnung, Schwung, Geraderichtung, Versammlung – ein bewährter Weg, der seit Jahrzehnten die deutsche Reitkultur prägt. Doch was, wenn es einen anderen, ebenso logischen Weg zur höchsten Harmonie gibt? Einen Weg, der nicht für das Viereck, sondern für die Weite des offenen Feldes entwickelt wurde?
Die Doma Vaquera, die traditionelle Reitweise der spanischen Rinderhirten, folgt einer eigenen Ausbildungsphilosophie. Sie ist kein Gegenentwurf zur klassischen Dressur, sondern eine eigenständige Kunstform, deren Ziel ein wendiger, mutiger und absolut zuverlässiger Partner für die Arbeit ist. Für Reiter, die nach einer praktischen, vielseitigen und tief auf Partnerschaft basierenden Methode suchen, bietet die Ausbildungspyramide der Vaqueros faszinierende Einblicke. Wir nehmen Sie mit auf diesen Weg – Stufe für Stufe und im direkten Vergleich zur bekannten FN-Skala.
Der fundamentale Unterschied: Die Kunst der Arbeit vs. die Kunst der Bewegung
Um die Ausbildungsmethoden zu verstehen, lohnt sich ein Blick auf ihr höchstes Ziel. Ein Blick auf die Biomechanik beider Reitweisen macht den Unterschied unmissverständlich klar:
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FN-Dressur: Das Ziel ist die Entwicklung von Tragkraft. Die Versammlung dient dazu, das Pferd auf der Hinterhand Last aufnehmen zu lassen, um ausdrucksstarke, ästhetische und kraftvolle Bewegungen wie eine Piaffe oder Passage zu ermöglichen. Es ist die Kunst einer fließenden, kraftvollen Tanzdarbietung.
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Doma Vaquera: Das Ziel ist die Entwicklung von explosiver Wendigkeit. Die Versammlung dient hier dazu, das Pferd auf der Hinterhand so kompakt zu machen, dass es blitzschnell beschleunigen, stoppen und auf der Stelle wenden kann (media vuelta). Es ist die funktionale Kraft für die Arbeit am Rind, bei der in Sekundenbruchteilen reagiert werden muss.
Dieses unterschiedliche Endziel – Kunst vs. Arbeit – formt jeden einzelnen Schritt auf dem Weg dorthin.
Phase 1: Die Basis – Gelassenheit & Rhythmus (statt Takt & Losgelassenheit)
Während die FN-Skala mit Takt und Losgelassenheit in der kontrollierten Umgebung einer Reitbahn beginnt, geht der Vaquero hier einen anderen Weg.
Die Vaquero-Methode:
Die Ausbildung eines Jungpferdes (remonte) beginnt mit dem Aufbau von mentaler Ruhe (serenidad) und einem natürlichen Rhythmus. Statt in der Bahn zu arbeiten, geht der Vaquero mit dem jungen Pferd ins Gelände. Dort lernt es, über unebenen Boden zu balancieren, äußere Reize gelassen hinzunehmen und dem Reiter als sicheren Anführer zu vertrauen. Die Losgelassenheit ist hier kein Trainingsziel, sondern eine natürliche Folge des mentalen Gleichgewichts und des Vertrauens.
Praxisbeispiel:
Ein junges Pferd wird in der Gruppe mit erfahrenen Pferden auf langen, ruhigen Ausritten mitgeführt. Es lernt, Bäche zu durchqueren, an flatternden Planen vorbeizugehen und sich an die Bewegungen des Reiters zu gewöhnen, lange bevor die erste Lektion in einer Bahn stattfindet.
Tipp für Reiter:
Legen Sie in der Anfangsphase den Fokus weniger auf die perfekte Form als auf die mentale Verfassung Ihres Pferdes. Ein Pferd, das Ihnen im Gelände vertraut, wird später in der Arena williger und mutiger mitarbeiten.
Phase 2: Die Verbindung – Der Impuls (statt Anlehnung)
Die konstante, weiche Anlehnung an das Gebiss ist ein Eckpfeiler der klassischen Dressur. In der Doma Vaquera wird die Verbindung anders definiert: als präziser Impuls über eine Hand.
Die Vaquero-Methode:
Das Ziel ist die einhändige Zügelführung (a una mano), denn die andere Hand muss für die Arbeit mit der Garrocha (dem Hirtenstab) frei bleiben. Deshalb kann die Verbindung nicht konstant sein, sondern besteht aus kurzen, gezielten Impulsen. Das Pferd lernt, auf einen leichten Impuls hin zu reagieren und die Haltung selbstständig beizubehalten, bis ein neuer Impuls folgt. Es trägt sich selbst, anstatt sich am Zügel abzustützen.
Unterschied zur klassischen Dressur:
Während die FN-Anlehnung eine stete, federnde Verbindung sucht, strebt der Vaquero nach einer selbsttragenden Haltung des Pferdes, die nur bei Bedarf korrigiert wird. Dies fördert eine enorme Eigenverantwortung und Leichtigkeit.
Tipp für Reiter:
Denken Sie in Impulsen, nicht in konstantem Zug. Geben Sie eine Parade und geben Sie nach, sobald die gewünschte Reaktion erfolgt. Ihr Pferd lernt so, auf feinste Signale zu achten.
Phase 3: Der Motor – Funktionale Kraft (statt Schwung)
Schwung wird in der FN-Skala oft mit ausdrucksstarken, raumgreifenden Gängen assoziiert. Für den Vaquero hat „Schwung“ eine pragmatischere Bedeutung: effiziente, energiesparende Vorwärtsbewegung.
Die Vaquero-Methode:
Ein Arbeitspferd muss über Stunden leistungsfähig bleiben. Der Fokus liegt daher auf der Entwicklung einer funktionalen Kraft aus der Hinterhand. Diese Kraft wird nicht in hohe, schwebende Tritte, sondern in einen bodendeckenden, ausdauernden Schub umgesetzt. Der berühmte Arbeitsgalopp der Vaqueros ist ein Paradebeispiel: Er ist extrem versammelt und langsam reitbar, kann aber jederzeit explosionsartig nach vorne katapultiert werden.
Praxisbeispiel:
Lange Arbeitseinheiten im leichten Trab und Galopp über Felder und Hügel kräftigen die Hinterhand auf natürliche Weise. Das Pferd lernt, seine Energie effizient einzusetzen, anstatt sie in spektakulären, aber ermüdenden Bewegungen zu verbrauchen.
Phase 4: Balance in Aktion – Wendigkeit (statt Geraderichtung)
Geraderichtung im klassischen Sinne bedeutet, dass das Pferd mit den Hinterhufen in die Spur der Vorderhufe tritt, um auf geraden und gebogenen Linien im Gleichgewicht zu sein. In der Doma Vaquera ist Geraderichtung das dynamische Ergebnis überlegener Wendigkeit.
Die Vaquero-Methode:
Seitengänge sind für den Vaquero keine gymnastischen Übungen zur Geraderichtung, sondern funktionale Werkzeuge des Alltags. Ein Travers wird genutzt, um ein Gatter vom Sattel aus zu öffnen; eine Hinterhandwendung positioniert das Pferd präzise neben einem Rind. Das eigentliche Ziel ist die Fähigkeit, den Pferdekörper jederzeit mühelos in jede Richtung bewegen zu können. Das Pferd wird dadurch von Natur aus gerade, weil es lernt, seine vier Beine unabhängig und perfekt ausbalanciert zu steuern.
Tipp für Reiter:
Nutzen Sie Seitengänge, um reale Aufgaben zu lösen. Üben Sie das seitliche Verschieben an einer Wand oder das Umrunden eines Pylons im Travers. Dies verleiht der Lektion einen praktischen Sinn und fördert das Verständnis des Pferdes.
Phase 5: Die Krönung – Explosive Versammlung (statt Tragkraft)
In der Versammlung, der Krönung der Ausbildung, gipfelt der entscheidende Unterschied zwischen den beiden Systemen.
Die Vaquero-Methode:
Die Versammlung des Vaquero-Pferdes zielt auf maximale Agilität ab. Die Biomechanik ist faszinierend: Das Pferd senkt die Hanken extrem ab und verlagert sein Gewicht so weit auf die Hinterhand, dass die Vorhand frei und leicht wird. Diese „sitzende“ Position ermöglicht es, aus dem Stand zu explodieren, sofort zu stoppen (parada a raya) oder auf einem Teller zu drehen (media vuelta). Es ist der Ausdruck höchster Aktionsbereitschaft.
Der biomechanische Unterschied:
Die FN-Versammlung fördert eine schwingende, elastische Lastaufnahme für ausdrucksstarken Trab und Galopp. Die Vaquero-Versammlung trainiert eine kompakte, fast statische Lastaufnahme für blitzschnelle Richtungswechsel. Beide erfordern immense Kraft, aber für einen völlig anderen Zweck.
Bild-Vorschlag: Ein Vaquero in einer Media Vuelta, die explosive Kraft und Balance des Pferdes zeigend
Vom Trainingsplatz zur Meisterschaft
Auf dieser soliden Basis baut die Spezialisierung auf: die Arbeit mit der Garrocha, das präzise Manövrieren in einer Rinderherde oder die Präsentation der Reitkunst auf einer Feria. Jede dieser Disziplinen erfordert exakt jene Qualitäten, die in der Ausbildungspyramide von Grund auf gefördert wurden: Gelassenheit, Reaktionsschnelligkeit, Wendigkeit und der unbedingte Wille zur Mitarbeit.
Weiterführender Link: Die Disziplinen der Working Equitation
Fazit: Zwei Wege, ein Ziel – die perfekte Partnerschaft
Die Ausbildungspyramide der Doma Vaquera ist kein „besseres“ System als die FN-Skala, aber sie ist ein fundamental anderes. Es formt einen Athleten, der für die Herausforderungen der Arbeit im offenen Gelände geschaffen ist – ein Pferd, das nicht nur Lektionen abspult, sondern mitdenkt, antizipiert und zu einem echten Partner wird.
Für Reiter, die eine Reitweise suchen, die Vielseitigkeit, praktische Anwendbarkeit und eine tiefe, auf Vertrauen basierende Beziehung in den Vordergrund stellt, bietet dieser traditionsreiche Weg eine unglaublich bereichernde Alternative.
Häufig gestellte Fragen (FAQ)
Ist die Doma Vaquera nur für spanische Pferderassen geeignet?
Nein. Obwohl Rassen wie der PRE oder Lusitano eine natürliche Veranlagung für die hohe Versammlung mitbringen, kann jedes Pferd mit korrektem Körperbau von den gymnastizierenden und vertrauensbildenden Prinzipien der Doma Vaquera profitieren.
Kann ich Elemente der Doma Vaquera mit meiner klassischen Dressurausbildung kombinieren?
Absolut. Insbesondere die Betonung der Gelassenheit durch Geländearbeit und die Fokussierung auf funktionale Seitengänge können jede Reitweise bereichern und für mehr Abwechslung und Motivation im Training sorgen.
Welche Rolle spielt die Ausrüstung in der Doma Vaquera?
Die Ausrüstung ist hochfunktional. Der Vaquero-Sattel bietet dem Reiter beispielsweise extrem viel Sicherheit bei schnellen Manövern. Seine breite Auflagefläche ist zudem darauf ausgelegt, das Reitergewicht über lange Arbeitsstunden optimal zu verteilen. Eine durchdachte Sattelkonstruktion ist für die Rückengesundheit entscheidend. Hersteller wie Iberosattel haben sich zum Beispiel auf die besonderen Anforderungen barocker und spanischer Pferde spezialisiert und schaffen so die Grundlage für eine lange Leistungsfähigkeit.




